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Lothar Seruset

*1956 in Ulm
Lebt und arbeitet in Lentzke/Brandenburg

Fliegen, 2015/2023

Bronze bemalt auf Holzstele
195,7 cm Höhe, 36 x 22 x 15 cm (Bronze),
120 x 12 x 10,5 cm (Stele)
Courtesy Galerie Tammen, Berlin



Bereits im griechischen Mythos des Ikarus drückt sich der Wille des Menschen zum Fliegen aus. Der junge Ikarus entwickelt mit seinem Vater Daidalos Flügel, um aus der Gefangenschaft des König Minos auszubrechen. Während des Ausbruches wird Ikarus übermütig und fliegt trotz der Warnungen seines Vaters höher Richtung Sonne. Seine Flügel schmelzen daraufhin und er fällt hinab in die Tiefen des Meeres. Lothar Seruset
(Foto: David von Becker, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn 2023)

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte die Entwicklung von flugfähigen Gefährten ihren Aufschwung. Otto Lilienthal und die Brüder Wright erprobten ihre Flugzeugprototypen, die im Ersten Weltkrieg von den Armeen Europas adaptiert wurden, bis schließlich die ersten Passagierflugzeuge Mitte der 20er Jahre in Betrieb gingen. Zwischen militärischer und kommerzieller Nutzung verwirklicht sich so immer weiter der Traum des Fliegens und ist heute in Zeiten von Low-Budget Airlines nahezu jedem Menschen zugänglich.

Lothar Seruset entwickelt seine Skulpturen von der Zeichnung aus – weniger als Entwurf für ein fertiges Gebilde, denn als Prozess von Ideen, die sich allmählich zusammensetzen und als Skulptur erprobt werden können. Der Endzustand ist dabei jedoch nie antizipiert. So entwickelt der Künstler immer wieder Skulpturen, in denen das Flugzeug in unterschiedlichen Kontexten auftaucht. Mal als gewaltvolle Waffe, wie Seruset anhand des terroristischen Anschlags auf das World Trader Center am 11.09.2001 aufzeigt, mal als friedvolles, spielerisches Passagierflugzeug, wie es in der Skulptur im Innenhof des Münchener Flughafens dargestellt wird.

Auch bei der Arbeit „Fliegen“ ist das Flugzeug ein zentrales Element. Eine Figur steht nur mit einer Hose bekleidet auf einer Kugel und balanciert ein Passagierflugzeug auf seinem Kopf. Die Haltung des Menschen wirkt instabil, als könne er jeden Moment die Balance verlieren. Mit angespannten Gesichtszügen und ausgestreckten Armen versucht er den Kollaps der Konstruktion, deren Zentrum er selbst ist, zu vermeiden. In der Tat hängt alles von der Figur ab: eine falsche Bewegung und die Kugel rollt los. Das Flugzeug fällt in diesem Szenario ebenfalls vom Kopf und der Idealzustand der Skulptur bricht in sich zusammen. Glücklicherweise handelt es sich um ein massives, aus Bronze geschaffenes Konstrukt, dessen Zerfall nicht zu befürchten ist.

Seruset stellt ein Denkbild vor, in dem der Mensch zwischen Erde und Erfindung balancieren muss. Die Erdkugel als Grund, auf dem menschliches Leben existieren kann und dessen Ressourcen für den Fortschritt der Menschheit nötig sind. Das Flugzeug als Symbolbild eben jenes Fortschritts, aber auch der maßgeblich verursachten Umweltverschmutzung auf dem Kopf. Und der Mensch? Er trägt die Verantwortung, die ihm mittlerweile Angst macht.

Wie in zahlreichen anderen Skulpturen Serusets entsteht durch die vertikale Beziehung verschiedener Gegenstände eine Bedeutungsschichtung. Alles hängt im Balanceakt miteinander zusammen. Dabei stellt sich die Frage, was eigentlich auf dem Spiel steht? Was passiert, wenn die Konstruktion zusammenbricht? Kann es ein Leben geben, in dem der Mensch nicht in Gefahr ist, durch seine eigenen Erfindungen zugrunde zu gehen? Und ist der Verzicht auf das Flugzeug als umweltverschmutzendes Transportmittel die Lösung für den misslichen Balanceakt des Menschen?

Der Klimawandel stellt die Menschheit vor die Frage, welche Entwicklungen und Produkte entbehrbar sind und welche Opfer gemacht werden müssen. Der Hochmut des Ikarus im Zeitalter unendlichen Fortschritts ist einem hilflosen und besorgten Zustand angesichts der Folgen des Klimawandels gewichen. Auch die glanzvolle Geschichte des Fliegens weicht immer mehr der Skepsis. So vereint die Menschheit seit einiger Zeit nicht mehr nur Ikarus, sondern auch Daidalos in sich. Hochmut und Vernunft. Ignoranz und Wissen. Je näher wir der Sonne und damit unwiderrufbaren Konsequenzen menschlicher Erfindungen kommen, desto dringlicher stellt sich die Frage nach deren Lösung. In der Aushandlung dieses Zwiespalts wird die Gegenwart und Zukunft der anthropozentrischen Welt entschieden. Und vielleicht findet der Mensch hier endlich einen festen Stand zwischen sich, seinen Produkten und der Erde.

(N.G.)

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