Finja Sander
*1996 in Hildesheim
Lebt und arbeitet in Berlin
„Für Morgen“ – performative Reihung, 2023
Edelstahlgestell, Körper, Zurrgurte293 x 188 x 268 cm
Leihgabe der Künstlerin
Video by ArtBeats
Die performative Reihung „Für Morgen“ ist schwer zu greifen. Einmal aufgebaut steht ein Gerüst aus herkömmlichen Metallstangen und neonorangenen Bändern ganz für sich am Rheinufer.
Am 10.und 11.Juni 2023 wird das Werk durch die Performance „Für Morgen“ von Finja Sander aktiviert.
(Foto: Mateocontrerasgallego)
In insgesamt vier Aufführungen hängt die Künstlerin an diesem Wochenende jeweils eine Stunde horizontal in dem Gestell – reglos und mit geschlossenen Augen. Nach Beendigung der Performance entwickelt Sander die ursprüngliche Form des Gerüsts weiter. Der obere Teil der Konstruktion wird abgefräst und übrig bleiben nur die im Boden befestigten Stehlen, die als Relikte auf die vergangene Performance verweisen.
Form und Idee entleiht Finja Sander der Bronzeskulptur Der Schwebende, die Ernst Barlach 1927 für den Güstrower Dom anfertigte. Dort war die figurative Skulptur mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen horizontal schwebend in einer Seitenkapelle ausgestellt, wo sie „eine schwer ruhende Unbeweglichkeit als Ausdruck nie versiegenden Grams“ vermitteln sollte, die dem Tod und Leiden des Ersten Weltkriegs entsprang. Entstanden war ein Denkmal anderer Art. Statt auf Heldentaten der auf Sockeln stehenden Soldaten einzugehen, fertigte Barlach ein Denkbild der Trauer und Schuld. Jene pazifistische Botschaft war den Nationalsozialisten 1937 ein Anlass, das Werk als entartet zu brandmarken und einzuschmelzen. Das versteckte Werkmodell sicherte die Form der Skulptur, wodurch diese nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in der Antoniterkirche in Köln und schließlich als Drittguss wieder im Güstrower Dom ausgestellt werden konnte. Die Nachkriegszeit und ihre aufkeimende Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur führten dazu, dass Barlachs Skulptur als immer umfassender formuliertes Friedensdenkmal gelesen wurde. In Zeiten von Krisen und Kriegen gewinnt Der Schwebende wieder an Gegenwartsbezug. Doch bleibt Finja Sander in ihrer Beschäftigung mit Barlach, nicht bei einer aktivistischen Friedensforderung stehen. Die ambivalente Gegenwart, in welcher der Ruf nach Frieden zum Ausdruck von Ignoranz und Geschichtsverdrehung wird und zugleich Forderungen nach zunehmender Militarisierung laut werden, wendet sich Sander den Mechanismen des Erinnerns zu. Sie interessiert weniger eine Bewertung von Frieden und Krieg, als vielmehr die Entstehung und Rolle von deutschen Denkmälern und Erinnerungskultur, welche im Kontext der beiden Weltkriege und der nationalsozialistischen Verbrechen an Bedeutung gewann. Und das in der Hoffnung, die Relevanz der Erinnerung für die Gegenwart hervorzuheben und neue Wege des Umgangs mit der deutschen Vergangenheit zu entwickeln.
In ihrem Interesse an Barlachs Denkmal nimmt Sander die schwebende Haltung der Skulptur wörtlich und nähert sich ihr durch den eigenen Körper an. Damit wird dieser zum Schauplatz der Umwandlung von Skulptur in performativen Akt. In der Bestrebung, selbst zu einem Objekt zu werden, die eigene Körperlichkeit ein Stück weit aufzugeben und sich dem entstehenden Bild unterzuordnen, knüpft Sander an viele ihrer früheren Performances an. Einmal im Monat wird „Für Morgen“ über das Jahr 2023 hinweg an insgesamt zwölf verschiedenen Orten aufgeführt. So entsteht ein repetitiver Rhythmus, der die Notwendigkeit der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit deutscher Erinnerungskultur zum Ausdruck bringt. In experimenteller Manier stellt sich die Künstlerin Orten, die mal biografische Bezüge zu Barlach aufweisen, mal mit nationalsozialistischer Vergangenheit aufgeladen sind – und teils Orten jenseits dieser Bezüge. Denn, wie Sander meint, sind Fragen von Erinnerung und Schuld überall in Deutschland verortet und die Notwendigkeit diese zu stellen immer gegeben. Im Kontrast zwischen starrer Objekthaftigkeit und fluider Menschlichkeit hinterfragt Sander so die Rolle des Denkmals und entwickelt es zugleich weiter. Mit dem Verständnis, dass eine friedliche Gegenwart und Zukunft sich nur in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Mechanismen des Gedenkens finden lässt.
(N.G)