Konstantin Bayer
*1983 in Gotha
Lebt und arbeitet in Weimar und Berlin
DialogFlags (Lu Xun / Bertholt Brecht), 2020
Konstantin Bayer, der an der Bauhaus-Universität in Weimar sowie der Tongji University in Shanghai studiert hat, setzt sich in vielen seiner Kunstwerke mit gesellschaftlichen Umbruchsituationen sowie der Umweltdebatte auseinander. Seit seinem Studienaufenthalt 2008/09 besucht Bayer, der selbst familiär vom Leben in einem sozialistischen System geprägt und politisiert worden ist, regelmäßig China, wo ihn das Erfahren der chinesischen Gesellschaft und sein Fremdsein darin fasziniert. Er bringt von dort Alltagsobjekte mit nach Deutschland, die er in seinen Werken zitiert und dabei künstlerisch entfremdet, um den Umgang mit Klischees und Stereotypen zu hinterfragen.
In Bingen präsentiert der Künstler am Bürgermeister-Neff-Platz sowie am Zollamt Flaggen mit chinesischen Schriftzeichen, die gestalterisch chinesischen Baustellenhinweisen nachempfunden sind. Diese rufen meist anhand der Erläuterung von Kausalzusammenhängen zu Sicherheitsmaßnahmen an der Baustelle auf und verweisen dadurch nicht nur auf einen bestimmten der Sicherheit verpflichteten Ort, sondern auch auf eine „sichere“ Gesellschaft. Ähnliche Banner mit gesellschaftlichen Verhaltensregeln und oft parteinahen, kommunistisch geprägten Parolen finden sich ebenso an vielen öffentlichen Plätzen.
Den meisten Besuchern werden sich die Inhalte der Fahnen nicht anhand der großen Schriftzeichen, sondern lediglich durch die kleinformatigen gedruckten Übersetzungen am unteren Ende der Fahnen erschließen. Der Betrachter, der keine chinesischen Schriftzeichen lesen kann, weiß, dass etwas kommuniziert wird und erkennt aufgrund der Farbkombinationen von rot/gelb und gelb/rot, die an die Flagge der Volksrepublik China erinnern, einen bestimmten visuellen Kontext. Vom eigentlichen Inhalt der Kommunikation ist er allerdings ausgeschlossen und kann lediglich Vermutungen anstellen.
Für die Ausstellung hat Bayer Zitate des deutschen marxistischen Dramatikers, Regisseurs und Dichters Bertolt Brecht (1898–1956) und des chinesischen Schriftstellers, Essayisten, Dichters und Literaturkritikers Lu Xun (1881–1936) gegenübergestellt.
Diese waren während ihrer Lebenszeit in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur in ihrer Rolle als kritische linke Schriftsteller fernab des literarischen und politischen Zentrums in Moskau verbunden. Auch die Geschichte ihrer Würdigung im ästhetischen und politischen Bereich sind stark miteinander verwoben: Lu Xun, der in China sehr bekannt ist und vor allem auch durch die Verwendung der Umgangssprache in seinen Schriften als Begründer der modernen Literatur gilt, wurde in den 1950er-Jahren in der Volksrepublik China von der Kommunistischen Partei vereinnahmt, Bertolt Brecht in den 1970er-Jahren durch die Sozialistische Einheitspartei in der DDR. Obwohl Lu mit sozialistischen Ideen sympathisierte, trat er nie der Kommunistischen Partei Chinas bei und bewahrte sich immer eine kritische Distanz. Während der Kulturrevolution erklärte die Kommunistische Partei Lu zu einem der Väter des Kommunismus in China, unterdrückte jedoch zugleich die intellektuelle Kultur, die er repräsentierte. Lu Xun, der nicht nur viele Essays und Romane verfasste, sondern ebenso Werke der Weltliteratur ins Chinesische übersetzte – unter anderem von Bertolt Brecht – wird oft mit dem deutschen Schriftsteller in Beziehung gesetzt: Beide verbindet die Erfahrung des Transkulturellen und die intellektuelle Auseinandersetzung mit Sprachvermögen und Verständnislosigkeit. Lu hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Jahre in Japan gelebt und sprach mehrere Fremdsprachen. Das Thema der Orientierungslosigkeit in einem fremden kulturellen Kontext zieht sich durch sein Schaffen. Brecht wiederum, der von 1933 bis 1948 im Ausland lebte, vor allem in Dänemark und Amerika, wollte keine Fremdsprachen lernen, um seine Ausdrucksfähigkeit im Deutschen nicht zu beeinflussen.
Bayer hat unter anderem Zitate beider Schriftsteller ausgesucht, die sich mit den Themenkomplexen um Wahrheit, Objektivität und Misstrauen in der Gesellschaft auseinandersetzen.
Gibt es eine objektive Wahrheit? Müssen wir Informationen und Nachrichten misstrauen? Bayer animiert durch die Flaggen mit den Zitaten von Lu und Brecht über die Stadt hinweg einen inhaltlichen Dialog. Gerade in Zeiten von Fake News und postfaktischer Politik ist es wichtig, dass wir uns von sozialkritischen Denkern wie Brecht und Lu zum Nachdenken und zum Hinterfragen anregen lassen.