Havin Al-Sindy
*1987 in Zaxo, Irak
Lebt und arbeitet in Stuttgart und Düsseldorf
Lehm an meinem/ihrem Finger –
ein Bild von einem Lehmhaus, 2019
Havin Al-Sindy hat nicht nur Biologie, sondern auch Kunst studiert und war bis 2019 Meisterschülerin an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Neben einem Werkkomplex, in dem Al-Sindy biologische und chemische Phänomene künstlerisch verarbeitet, setzt sie sich in ihrem Schaffen vor allem auch mit persönlichen Erfahrungen auseinander, die sich auf Erinnerungen an vergangene und aktuelle politische Situationen beziehen.
Die Installation „Lehm an meinem/ihrem Finger – ein Bild von einem Lehmhaus“ wurde von der Künstlerin als Abschlussarbeit ihres Meisterstudiums für den Park der Villa Merkel in Esslingen konzipiert. Das Kunstwerk zeigt ein einfaches Lehmgebäude, das die Künstlerin dort gemeinsam mit ihrer Mutter gebaut hat.
Der Großteil der verwendeten Lehmziegel wurde aus dem Irak nach Esslingen transportiert, die restlichen wurden von der Künstlerin gemeinsam mit ihrer Mutter vor Ort in einem performativ anmutenden Akt aus irakischem Lehm gefertigt. In dem im Innenraum abgespielten Video kann man sehen, wie die beiden Frauen die Ziegel herstellen. Dabei zoomt die Kamera auch auf die Hände, die den Lehm intensiv bearbeiten.
Lehm ist seit mehr als 10.000 Jahren weltweit das vorherrschende Baumaterial, wurde in den letzten 100 Jahren jedoch in der westlichen Welt weitgehend ignoriert. Die Wände unserer Häuser mögen mit Materialien gebaut sein, die zwar dem Boden entstammen, doch im Zuge ihrer Verarbeitung zu Ziegeln oder Zement werden sie mit Chemikalien gemischt und erhitzt, und häufig über lange Strecken antransportiert. Die ökologischste und preiswerteste Art zu bauen ist es dagegen, Erde mit Wasser zu mischen, diese in Blöcke zu formen und trocknen zu lassen. Man muss sich beispielsweise nur Bilder des „Manhattans der Wüste“, der Altstadt von Schibam im Jemen, anschauen mit ihren bis zu 25 Meter hohen und bis zu 500 Jahren alten Wohnhäusern aus Lehmziegeln, um die Möglichkeiten des Materials zu erahnen. Dennoch werden Lehmgebäude oft als Architektur für die Ärmsten wahrgenommen, auch wenn sich dieses Bild heute im Zuge eines zunehmenden ökologischen Bewusstseins in Teilen wandelt. Das aus hellem, eisenhaltigem Lehm erbaute Haus in Bingen erscheint im Umfeld der Gartenanlage und der Häuser am Rheinufer wie eine temporäre, ärmliche Hütte. Der Bau ist eine Rekonstruktion der Erinnerung Al-Sindys, die seit 2000 in Deutschland lebt; er ist dem Gebäude nachempfunden, das der Kurdin mit ihren Eltern und zehn Geschwistern als Zuhause im irakischen Zaxo diente, nachdem sie ihr privilegiertes Haus hatten aufgeben müssen. Die Künstlerin hat keine Fotos des ursprünglichen Hauses, vielmehr lässt sie die Bilder, die sie in sich trägt, als Skulptur entstehen. Kann man Bilder der Erinnerung real werden lassen? Kann man den Ort der Heimat an anderer Stelle wieder erschaffen?
Für Al-Sindy spielt es eine besondere Rolle, dass ihre Mutter das Haus in Zaxo, das der Künstlerin als Vorlage diente, ganz alleine für die Familie erbaute, während Vater und Brüder abwesend waren.
Sie hat es beeindruckt, welche aktive und körperlich starke Rolle die Mutter hier übernahm, um der Familie aus dem Nichts heraus einen schützenden Rückzugsort zu erschaffen. Das Haus, das nach der Flucht der Familie zerstört wurde und das die Künstlerin aus irakischem Lehm erst in Esslingen rekonstruierte und nun in Bingen mit ihrer Mutter und und zwei Männern aus ihrem Geburtstort wieder erbaut, soll in einem nächsten Schritt an seinem eigentlichen Ursprungort in Kurdistan entstehen.
Mehr als eine Millionen Kurden leben im deutschen Sprachraum. Nicht nur sie, sondern alle Geflüchteten und Migranten tragen Bilder und Erinnerungen der Heimat, die sie vielleicht nie wiedersehen werden, unsichtbar für alle anderen in sich.
Man geht davon aus, dass mehr als 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. Sie leben im Transit – auf der Straße ohne ein Dach über dem Kopf, in Lagern, in Massenunterkünften. Sie verlassen ihre Dörfer und Städte, Familie und Freunde. Al-Sindy sensibilisiert uns in ihrer mit allen Sinnen erfahrbaren Arbeit für die Fragen nach Heimat, nach individueller und kollektiver Erinnerung und Identität.