Alicja Kwade
*1979 in Katowice, Polen
Lebt und arbeitet in Berlin
Wächter (Anschauungsvorstellung), 2013
Vier verschieden große Blöcke aus Carrara-Marmor, Rosengranit, Sandstein und Eichenholz mit je unterschiedlicher Höhe, Breite und Tiefe sowie ein 182 Zentimeter hoher Zylinder aus Aluminium erscheinen als Gruppe. Beinahe figurativ zueinanderstehend und zugleich doch so weit von einander entfernt, laden sie Besucher ein, sich zwischen ihnen zu bewegen. Klare Formen, verschiedenartige Materialien, ästhetische Erscheinung: Nichts ist zufällig oder ungeplant in den Kunstwerken der Berliner Künstlerin Alicja Kwade, die sich in ihren Skulpturen und Installationen ebenso wie in Fotografien und Videoarbeiten immer wieder mit philosophischen, gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Fragen auseinandersetzt.
Die Arbeit „Wächter (Anschauungsvorstellung)“ hier im Katalog abgebildet zu sehen (aus einer Perspektive, die der Fotograf vorgibt) und sich vorzustellen, wie man sich in Mitten der verschiedenen Elemente bewegen könnte, ist eine Art, das Kunstwerk wahrzunehmen. Es ist etwas ganz anderes, sich vor Ort innerhalb der Installation zu bewegen, die Größen und Materialien je nach Standpunkt unterschiedlich wahrzunehmen. Und dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie man sich selbst verortet und welches Raumgefühl dies dem Besucher vermittelt. Auch wird deutlich, dass jeder, sei es aufgrund seiner körperlichen Größe oder seiner bisherigen Erlebnisse und Erfahrungen, die ihn umgebende Installation anders wahrnimmt. Darüber hinaus wird dieselbe Person die Arbeit mit einem zeitlichen Abstand vermutlich wieder neu erleben.
Kwades Kunstwerke sind sichtbar gewordene Gedankenexperimente zu Raum und Zeit.
Indem sie dem Betrachter die Subjektivität seiner eigenen Erfahrung bewusst machen, sensibilisieren sie ihn für ein verändertes Verständnis von Realität. Der Künstlerin geht es nicht nur um das Sehen, sondern ebenso um das Wahrnehmen, und letztendlich auch darum, welche Bilder und Empfindungen im Gedächtnis des Betrachters Bestand haben werden. Auf die Frage „Was ist echt?“ hat die Künstlerin in einem Interview geantwortet: „Ich beschäftige mich mit dieser Frage sehr viel in meiner Arbeit, im Grunde geht es hierbei um Bewusstseinstheorie. Wenn wir vor einem Kunstwerk stehen, sehen wir es, erfassen es mit unseren Sinnen – es ist echt für uns. Die Gegenhaltung dazu kann aber ja sein: Letztlich verarbeitet unser Gehirn doch nur die Informationen, die es bekommt.“ (1)
Diese Ambivalenz und Relativität spiegeln sich zugleich im Titel der Arbeit wider: Wächter (Anschauungsvorstellung).
Generell geht es der Künstlerin in den Titeln ihrer Kunstwerke nicht um Festlegungen, sondern um Ambivalenzen und das Erahnen von Zusammenhängen; sie lassen Raum für subjektive Wahrnehmungen und Assoziationen.
So wird der Begriff „Wächter“ für viele Besucher unterschiedliche Konnotationen auslösen. Steht jede Skulptur in sich für einen Menschen als Wächter, sind die Materialien die Wächter, wer oder was wird bewacht? „Anschauung“ wiederum ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, der eng mit dem der Wahrnehmung im Zusammenhang steht. Bei Hegel heißt es „In der Anschauung überwiegt die Gegenständlichkeit des Inhalts. Erst wenn ich die Reflexion mache, daß ich es bin, der die Anschauung hat, erst dann trete ich auf den Standpunkt der Vorstellung.“ (2)
Die Installation zeigt all das auf, was zwischen „echt und falsch“, zwischen mir und meiner Umgebung, zwischen Physis und Vorstellung an Schattierungen vorhanden ist und sich permanent, je nach Standpunkt und Perspektive, verändert. Kwade macht so auf künstlerische Weise ein philosophisches Gedankengerüst sicht- und wahrnehmbar. Ihr Werk ermöglicht dabei nicht nur neue Erfahrungen im physischen Raum, sondern regt uns zudem an, in einen abstrakten Gedankenraum vorzudringen.
1) Anne Amer-Siemens: „Brauchen wir noch ‚echte‘ Kunst, wenn alles digital wird, Alicja Kwade?“, in: Frankfurter Allgemeine Quarterly, Ausgabe 05, S. 35.
2) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III. Teil, § 449.